Marduk und Assur: Der Aufstieg von obersten Reichsgöttern im Pantheon

Marduk und Assur: Der Aufstieg von obersten Reichsgöttern im Pantheon
Marduk und Assur: Der Aufstieg von obersten Reichsgöttern im Pantheon
 
War im 3. Jahrtausend v. Chr. der in Nippur beheimatete Gott Enlil die beherrschende Gestalt im sumerischen Götterhimmel, so begann im frühen 2. Jahrtausend v. Chr. der Aufstieg der Götter Marduk in Babylonien und Assur in Assyrien zu den obersten Göttern im jeweiligen Pantheon; in seiner Funktion als führende Gottheit im religiösen Denken der Bewohner Mesopotamiens wurde Enlil durch Marduk bzw. Assur ersetzt. Über die Ursprünge des Marduk-Kultes ist nichts bekannt. Auch die sumerische Schreibung »Amar-Utu«, dessen Deutung als »Jungrind des Sonnengottes« umstritten bleibt, gibt keinen Anhaltspunkt für die Verehrung des Marduk im 3. Jahrtausend v. Chr. Wahrscheinlich seit der 3. Dynastie von Ur war Marduk der auf die Stadt Babylon in Nordbabylonien begrenzte Lokalgott, der überregionale Bedeutung erst mit dem Aufstieg der 1. Dynastie von Babylon im 18. Jahrhundert v. Chr. zur führenden politischen Macht in Mesopotamien erlangte. So heißt es im Prolog der berühmten Gesetzessammlung des Hammurapi, die Götter Anu und Enlil hätten »dem Marduk, dem erstgeborenen Sohn des (Gottes der Weisheit) Ea, die Enlil-Würde über alle Menschen« übertragen. Zunächst zu einer der wichtigsten Gottheiten in Nordbabylonien aufgestiegen, wurde Marduk in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. unter den Kassiten zum dominierenden Gott in ganz Babylonien. Bereits im 13./12. Jahrhundert v. Chr. »König der Götter« genannt, verehrte man ihn im 1. Jahrtausend v. Chr. als höchsten Gott Babyloniens.
 
Die theologische Rechtfertigung des Aufstiegs Marduks zum babylonischen Nationalgott wurde mit der in Abschriften aus dem 1. Jahrtausend v. Chr. vorliegenden, aber wohl auf die Zeit Nebukadnezars I. zurückgehenden Dichtung »Enuma elisch« (»Als droben. ..«) geliefert. Dieses auch als »Weltschöpfungsepos« bezeichnete Werk schildert den Kampf des Marduk gegen die Tiamat (»Meer«), die gegen die Götter gezogen war, um die Tötung ihres Gemahls Apsu durch den Gott Ea zu rächen. Marduks Sieg über Tiamat bewahrte nicht nur die Götter vor der Vernichtung, sondern begründete auch - wie es ihm zuvor durch die Versammlung der Götter zugesagt worden war - die Übergabe der höchsten Gewalt an Marduk. Mit seinem Aufstieg zum obersten babylonischen Gott bekam Marduk charakteristische Züge und spezifische Geltungsbereiche der anderen großen Götter zugesprochen. Seine Gleichsetzung mit Asalluchi, dem babylonischen Beschwörungsgott, scheint dabei etwas älteren Ursprungs zu sein. Darüber hinaus vereinte Marduk in seiner Gestalt Weisheit sowie Fürsorge für Bewässerung und Vegetation, was ihn mit seinem Vater Ea verband. Mit seiner Funktion als Richtergott nahm er Züge des Sonnengottes Schamasch an.
 
Kultort des Marduk war Babylon. Der Tempelbezirk, in dem Marduk mit seiner Gattin Sarpanitu verehrt wurde, bestand aus einem Tieftempel, dem Esagila, und der berühmten Zikkurat Etemenanki, dem »Haus, Fundament von Himmel und Erde«. Das Esagila, in dem sich die Mardukstatue befand, lag außerhalb des von einer Mauer umgebenen Zikkurathofs. Mit dem Heiligtum des Marduk verbanden sich wichtige kultische Handlungen. Von besonderer Bedeutung war das Neujahrsfest, das in Babylon zu Beginn des babylonischen Jahres, also im Frühjahr, begangen wurde. Bestandteile des mehrtägigen Neujahrsfestes waren unter anderem die Rezitation des Epos »Enuma elisch« vor dem Gottesbild durch einen hohen Priester am 4. Nisan (dem ersten Monat des babylonischen Kalenders) sowie eine Prozession, bei der die Statue des Marduk und andere Götterstatuen zum außerhalb der Stadt gelegenen Neujahrsfesthaus (»Akitu«) - und wieder zurück - geleitet wurden. Bei der Rückkehr nach Babylon durchschritt die Götterprozession die eigens zu diesem Zweck von Nebukadnezar II. errichtete Prozessionsstraße mit ihren prachtvollen Löwenfriesen sowie das Ischtartor.
 
Als Sakrileg und als Demütigung mussten die Babylonier demnach die Fortführung der Mardukstatue nach Assyrien durch den assyrischen König Sanherib im Zuge der Zerstörung Babylons im Jahre 689 v. Chr. empfinden. Erst unter Assurbanipal wurde die Mardukstatue wieder in das Esagila gebracht, nachdem bereits zuvor der König Asarhaddon eine babylonfreundliche Politik betrieben und die Rückführung der Statue für das Jahr 669 v. Chr. geplant hatte. Seit dem 14. Jahrhundert v. Chr. lässt sich der Marduk-Kult auch in Assyrien nachweisen, jedoch hat er dort nie die Bedeutung und Popularität wie in Babylonien erlangt. Dies war in der Stellung des Gottes Assur begründet, der ähnlich wie Marduk im Verlauf des 2. Jahrtausends v. Chr. zum obersten assyrischen Reichsgott aufgestiegen war.
 
Spätestens seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. war Assur die lokale Gottheit der gleichnamigen Stadt und ihrer Umgebung am oberen Tigris. Auch hier sind die Ursprünge des Kults nicht klar erkennbar. Man nimmt an, dass die Bezeichnung »Herr des Ebech-Gebirges« auf den ursprünglichen Kultplatz des Gottes auf dem Gebirgsausläufer weist, auf dem dann die Stadt Assur gebaut wurde; bei dem Gott Assur würde es sich folglich um die göttliche Personifikation der Stadt (auf dem heiligen Berg) handeln. Mit der wachsenden machtpolitischen Bedeutung Assyriens im 2. Jahrtausend v. Chr. veränderte sich auch die Stellung des Gottes Assur im Pantheon. Aufgrund seines rein assyrischen Ursprungs gab es zunächst keine genealogischen bzw. auf Ehe gegründeten Beziehungen zu den anderen Gottheiten Mesopotamiens. Erst als er im 13. Jahrhundert v. Chr. in den Quellen als »assyrischer Enlil« erscheint, wurde dementsprechend Ninlil - in der assyrischen Form Mullissu - zu seiner Gattin. Als Hauptgott des assyrischen Pantheons galt auch Assur - wie Enlil - als »Herr der Länder«, »Großer Berg« und »Vater der Götter«. Wie Marduk vereinte Assur in seiner Gestalt charakteristische Züge anderer Gottheiten, so z. B. das kriegerische Wesen des Ninurta, die Rolle des Anu und des Enlil als Schicksalsentscheider sowie die Funktion als Richtergott, wie sie Schamasch zu Eigen war. Im 1. Jahrtausend v. Chr. erfolgte die Gleichsetzung mit Anschar, dem Vater des Himmelsgottes Anu, was die Erhebung des Assur über alle anderen Götter bedeutete. So ist auch in einigen assyrischen Exemplaren des Epos »Enuma elisch« Marduk durch Anschar-Assur ersetzt worden.
 
Der dem Gott Assur geweihte Tempel lag in Assur im Nordosten der Stadt direkt am Tigris. Maßgeblich für die späteren Baumaßnahmen am Tempel blieb der archäologisch überlieferte Grundplan des Bauwerks, das Schamschi-adad I. hatte errichten lassen. Bauliche Veränderungen größeren Ausmaßes erfolgten erst wieder unter Sanherib. Südwestlich des Heiligtums lag eine Zikkurat, die ursprünglich Enlil geweiht war und später auf Assur bezogen wurde. Umstritten ist, ob der inschriftlich genannte Enlil-Tempel Eamkurkurra (»Haus, Wildstier der Länder«) mit dem Assur-Tempel identisch war oder ein zwischen letztgenanntem Bauwerk und der Zikkurat zu suchendes Heiligtum bezeichnete.
 
Mit dem Assur-Tempel und seinen Gottheiten verbanden sich kultische Handlungen und Feste. Wie in Babylon spielten Götterprozessionen dabei eine besondere Rolle. Die entscheidende Bedeutung des Reichsgottes Assur für das Verständnis des assyrischen Königtums kommt nicht zuletzt in dem wichtigsten Titel der assyrischen Könige zum Ausdruck. Als »Statthalter Enlils« bzw. »Statthalter Assurs« verkörperten die Könige ein ewiges Prinzip, das entsprechend der Königsideologie für jeden assyrischen Herrscher galt. Als Stellvertreter Enlils und damit Assurs war es seine Aufgabe, die Ordnung des Landes zu erhalten und zu erneuern.
 
Dr. Hans Neumann

Universal-Lexikon. 2012.

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  • Marduk — Mạrduk   [sumerisch samar utuk »Jungstier des Sonnengottes«], hebräisch Merodạch, ursprünglich Stadtgott von Babylon, stieg nach der Befestigung der Vormachtstellung Babylons durch Hammurapi allmählich zum Reichsgott auf (um 1700 v. Chr.).… …   Universal-Lexikon

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